Das abendländische oder westliche Musiksystem des Quintenzirkels kann also keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. In der übrigen Welt gibt es andere Musiksysteme.
Die westliche tonale Musik prägt der Quintenzirkel durch seine ihm eigenen Tonartenwechsel, die – verglichen mit der grundtonbezogenen modalen Musik anderer Kulturen – sich vielleicht am ehesten als `verstandesmäßig´ charakterisieren lassen.
Wenn dieser Bach`sche Kunstgriff der Temperierung in den letzten Jahrhunderten immerhin dazu führte, dass die Musik aus den bis dahin vorherrschenden sakralen und fürstlichen Kammermusik-Räumen „unter`s Volk“ kam und eine allgemeinere Kultivierung zur Folge hatte, so sind bei all den wunderbaren Werken, die in dieser Stimmung komponiert wurden, dennoch auch gewisse Nachteile zu beklagen.
Zwar bewirkt dieser Stimmungs-Kompromiss zur „Begradigung“ der Reibungen natürlicher Intervalle, eine Vereinfachung der komplexen Ton-Beziehungen, allerdings ist diese Reduktion auch eine Beschränkung der spielbaren Töne und damit eine künstliche Einengung der harmonikalen Schwingungs-Wirklichkeit.
Am Umstand, dass die europäische Musik, statt sich wie früher üblich in vielen Skalen zu bewegen, nun auf nur noch zwei Tonfamilien – Dur und Moll – reduziert wurde, leidet die Kompatibilität mit den übrigen Musiksystemen der Welt. Jedenfalls wollen sich Musiker anderer Kulturkreise, die in ihrer Musik in anderen Skalen „zu Hause“ sind, im Zusammenspiel kaum in das Dur- und Moll-Schema des Abendlandes pressen lassen.
Allein in der indischen Raga- und orientalischen Maqam-Musik existieren – jenseits von Dur und Moll – hunderte von modalen Skalen. Weil eine Bewusstsein beeinflussende und kulturprägende Wirkung der Musik – auch in ihrer musikpädagogischen Relevanz – kaum bezweifelt werden kann, hat diese Polarisierung der Klangvielfalt in Dur und Moll im gesellschaftlichen Spiegel des abendländische Bewusstseins gravierende Spuren hinterlassen.
So mag die Inkompatibilität der musikalischen Systeme der Welt als Bild genommen werden für die Schwierigkeiten und Chancen einer globalen Verständigung.
Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist mit dem irdischen Tönen seiner Welt noch weit vom Einklang mit den „Harmonien der Sphären“ entfernt – jenem sagenhaften kosmischen Urklingen, das auch in ihm selber resoniert, wollte er`s nur hören.
Noch ist der Klang der Welt eher dissonant. Auf vielen Wellenlängen senden zahllose Radio- und Fernsehsender `Sound-Müll´ ins All, der sich extraterrestrischen Radioteleskopen (wenn es sie tatsächlich gäbe) bereits über Lichtjahre hinaus, als Störgeräusch bemerkbar machen müsste. Milliardenfache Motorengeräusche des technisierten Zeitalters überlärmen die leisen Klänge der Natur und berauben Mensch und Tier zunehmend der Stille und der Fähigkeit zur Kontemplation.
Je weniger die Menschheit und der Einzelne sich im Einklang mit sich selbst befindet, umso ferner sind sie der innerlichen und sphärischen Euphonie. Der technologische Fortschritt der Klangaufzeichnung und Konservierung von Musik – bis hin zur digitalen Beschneidung der Ober- und Untertöne zugunsten einer komprimierten Speicherung auf MP3-Playern und Datenträgern, fördert nicht die Qualität der Musik – sondern im Gegenteil – vielmehr eine massenmediale Kommerzialisierung, die zunehmend zu einer kulturellen Gleichschaltung der Welt führt.
Die jederzeitige Verfügbarkeit der „Ware Musik“ fördert nicht die „Kultivierung der Massen“ – sondern vielmehr die „Vermassung der Kultur“.
Viele sind vom „kulturellen Fastfood“ so pappsatt, dass sie keinen Hunger mehr auf wertvollere Nahrung haben. Die alte Herausforderung bei der Erlernung eines Instruments – die Beherrschung über sich selber zu erlangen – spielt nur bei wenigen noch eine charakterbildende Rolle, weil es mittels moderner elektronischer Instrumente heutzutage leicht geworden ist, ohne jede Übung oder musikalische Vorbildung synthetisch symphonische Klänge oder automatische Rhythmen zu erzeugen.
Dies kann – statt bewusstseinsfördernder Erkenntnis der harmonikalen Gesetzmäßigkeiten der Musik – zur Inflation des Egos führen, weil schon ein Fingerdruck genügt, um ein ganzes Orchester gesampelt zum Erklingen zu bringen.
Wie die Lautkraft des geistigen Wortes der Ursprache eines einstmals „ganzheitlichen Bewusstseins“, ging auch das Wissen um die kosmische Kraft des Klanges weitgehend verloren. Es erhielt sich seit der babylonischen Sprachverwirrung, relikthaft nur in den kulturellen Besonderheiten der Völker.
Der Verlust dieser harmonikalen Eigenarten, wie die Sprache eines Volkes oder die Musik einer Kultur, ist für die Menschheit ein ebenso großer Verlust, wie das Verlöschen genetischer Informationen aussterbender Tier- oder Pflanzenarten, als wichtige Glieder der Biosphäre.
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